#Aufschrei und #MeToo – Noch viel zu tun / Leitartikel von Laura Himmelreich

BERLINER MORGENPOST

Berlin (ots)

Vor exakt zehn Jahren löste ein „Stern“- Artikel von mir über den damaligen FDP-Spitzenkandidaten mit die #Aufschrei-Debatte aus. In dem Text schilderte ich einen Dialog, in dem ich mit Rainer Brüderle über Politik sprechen wollte, er mit mir aber über mein Dekolleté. Seitdem wurden mir drei Fragen häufig gestellt: Wie hat die Debatte mein Leben verändert? Was hat #Aufschrei gebracht? Würde ich den Artikel wieder schreiben?

Wenn man Sexismus im Zusammenhang mit einer bekannten Person öffentlich macht, wird die eigene Google-Trefferliste bis zum Lebensende mit diesem Ereignis verknüpft. Einige Stunden oder sogar nur Minuten, die man nicht wollte, bleiben immer Teil der öffentlichen Biografie. Ich wünschte, ich könnte ohne Zögern empfehlen, sexistische Erlebnisse publik zu machen. Doch wer das macht, erlebt meist auch Hass und Verleumdungen. Sich zu wehren, hat einen Preis.

#Aufschrei und vor allem ab 2017 ­#MeToo haben viel bewegt. Die Gesellschaft ist sensibler geworden. Grenzen des Machtmissbrauchs wurden klarer gezogen. Compliance-Abteilungen in Firmen beschäftigen sich nun mit Sexismus. Das Sexualstrafrecht wurde verschärft. Millionen haben bei #MeToo ihre Erfahrungen geteilt. Andere haben sich so mit ihren Erfahrungen nicht mehr allein gefühlt. Nicht sie haben etwas falsch gemacht, sondern jene, die übergriffig waren. Die Freiheit von Schuldgefühlen ist die Voraussetzung, sich zu wehren.

Auf der anderen Seite stehen diese Fakten: 2019 ergab eine US-Studie, dass rund 70 Prozent aller Frauen und Männer überzeugt sind, dass weiterhin viele Männer in Machtpositionen Frauen sexuell belästigen. In einer Online-Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen gaben 2019 fast alle Befragten an, dass in den vergangenen Wochen auf der Straße ihr Aussehen bewertet wurde. Mehr als die Hälfte habe unerwünschte sexuelle Annäherungsversuche erlebt. 19-jährige Teenager wurden am häufigsten belästigt. Die ersten Übergriffigkeiten erlebten Frauen im Schnitt mit 13 Jahren.

#Aufschrei und #MeToo haben was bewegt, aber nicht genug. Bei jeder Debatte über Diskriminierung fragt irgendjemand, was man überhaupt noch sagen dürfe. Es mangelt nicht an Meinungen. Es mangelt an Empathie. Wir hören nicht genug zu, wenn jemand sagt: Ich fühle mich bei diesem Spruch, dieser Sprache, dieser Berührung respektlos behandelt oder verletzt.

Zu oft wird zum Gegenschlag ausgeholt: Man solle sich nicht so haben, andere würde das nicht stören. Da ähneln sich Debatten über Sexismus, geschlechtergerechte Sprache oder den Schutz von Minderheiten. Wären wir empathisch, würden wir zuhören, was wen warum stört, und versuchen, Grenzen zu respektieren. Aber wir würden auch auf der anderen Seite genauer hinschauen: Warum fällt es vielen so schwer, ihr Verhalten zu ändern? Welche Strukturen haben Diskriminierung überhaupt möglich gemacht?

Könnte ich das Porträt noch einmal schreiben, würde ich erklären, wie es passieren konnte, dass jemand 40 Jahre kaum Widerstand erlebte, wenn er im beruflichen Kontext Sprüche über den Körper einer Frau machte. Dass auch er nicht zwangsläufig in verletzender Absicht handelt, wenn er auf Parteitagsbühnen für ähnliche Sprüche bejubelt wird.

Mein Artikel wäre auch ein Stück über eine Partei und ein Land, die ihm sein Leben lang signalisiert haben, dass sein Verhalten in Ordnung ist. Ich würde klarer aufschreiben: Das Problem ist sehr viel größer als eine Person.

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