Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: OVG Lüneburg 11. Senat | 11 PA 384/21 | Beschluss | Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Wegweisung und eines Aufenthaltsverbots nach § 17 a NPOG, PKH-Beschwerde

Sprengschutzmatten, Probesprengung, erfüllen Zweck.

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OVG Lüneburg 11. Senat,
Beschluss vom
12.12.2022, 11 PA 384/21, ECLI:DE:OVGNI:2022:1212.11PA384.21.00

§ 17a SOG ND, § 28 VwVfG, § 45 VwVfG, § 46 VwVfG, Art 9 Abs 4 GG

Verfahrensgang

vorgehend VG Lüneburg, 2. Dezember 2021, Az: 5 A 288/19, Beschluss

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg – Einzelrichterin der 5. Kammer – vom 2. Dezember 2021 geändert und ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., A-Stadt, bewilligt.

Gerichtskosten werden nicht erhoben; außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

1

Die Beschwerde des Klägers gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts hat Erfolg.

2

Der Kläger begehrt die Feststellung, dass eine von der Beklagten ihm gegenüber am 8. August 2019 für den Zeitraum vom 8. August 2019 bis zum 18. August 2019 wegen häuslicher Gewalt erlassene Wegweisung bezogen auf die mit seiner damaligen Ehefrau und der gemeinsamen Tochter bewohnte Wohnung in der D. in E. sowie ein auf diese Wohnung, die im Einzelnen angeführte Arbeitsstelle seiner damaligen Ehefrau sowie die im Einzelnen bezeichnete Kindertagesstätte der Tochter bezogenes Aufenthaltsverbot rechtswidrig waren.

3

Mit Beschluss vom 8. August 2019 hat das Amtsgericht E. wegen Dringlichkeit ohne mündliche Erörterung in der Gewaltschutzsache der Frau A. gegen den Herrn A. beschlossen, dass der Kläger seiner Ehefrau die Wohnung in der D. in E. zur alleinigen Benutzung zu überlassen hat und dem Kläger weitere im einzelnen angeführte Verhaltensweisen untersagt (Bl. 20 f. der Akte F.).

4

Ausweislich der vorgelegten Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Lüneburg (F.) stellte die damalige Ehefrau des Klägers am Vormittag des 8. August 2019 bei der Polizeiinspektion Heidekreis am Standort Soltau Strafanzeige gegen den Kläger wegen häuslicher Gewalt und mehrerer damit im Zusammenhang stehender Delikte, u.a. auch zulasten der gemeinsamen, damals ca. 18 Monate alten Tochter (Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Bedrohung, Beleidigung und Sachbeschädigung). Dabei gab die Ehefrau u.a. an, die gemeinsame Ehewohnung am Morgen verlassen zu haben und momentan mit ihrer Tochter bei ihrer Mutter „untergeschlüpft“ zu sein. Ausweislich eines polizeilichen Vermerks vom 8. August 2019 begaben sich an diesem Tag gegen 17:30 Uhr zwei Polizeibeamte zur Wohnung in der D.. Dort wurde dem Kläger gegenüber eine Wegweisung für die Ehewohnung bis zum 18. August 2019 ausgesprochen und ihm wurde untersagt, die Wohnanschrift der Mutter des Opfers, die Arbeitsstätte des Opfers und die Kita der Tochter aufzusuchen. Durch den ebenfalls vor Ort befindlichen Gerichtsvollzieher des Amtsgerichts Soltau wurde dem Kläger zeitgleich der richterliche Beschluss des Amtsgerichts Soltau nach dem Gewaltschutzgesetz zugestellt (s. Bl. 15 der Akte F.).

5

Am 9. September 2019 hat der Kläger Klage erhoben und beantragt, „die Verfügung der Beklagten vom 8. August 2019“ aufzuheben, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (5 B 52/19) und ihm Prozesskostenhilfe zu bewilligen. In der Anlage hat der Kläger ein von einem Polizeikommissar teilweise handschriftlich, teilweise offensichtlich an einem PC ausgefülltes Formular „Wegweisung und Aufenthaltsverbot bei häuslicher Gewalt § 17 a Abs. 1 NPOG“ vom 8. August 2019 vorgelegt. Dieses Formular befindet sich auch in der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte (s. Bl. 12 f. der Akte F.). Auf einen entsprechenden Hinweis der Berichterstatterin im Verfahren 5 B 52/19, dass sich die angegriffene Verfügung vom 8. August 2019 durch Zeitablauf erledigt habe und der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes keinen Erfolg haben dürfte, nahm der Kläger bzw. Antragsteller den Eilantrag zurück und das Verfahren wurde durch Beschluss vom 25. November 2019 eingestellt. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Klageverfahrens abgelehnt. Gegen diesen Beschluss des Verwaltungsgerichts wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde.

6

Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte dem Kläger Prozesskostenhilfe für das beabsichtigte Klageverfahren bewilligen müssen, weil die von ihm beabsichtigte Rechtsverfolgung im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife über den Prozesskostenhilfeantrag (dazu etwa Zimmermann-Kreher, in: Posser/Wolff, VwGO Stand: 1.10.2021, § 166 Rn. 45; Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 40) gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (dazu unter 1.) und der Kläger nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann (dazu unter 2.).

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1. Die von dem Kläger begehrte Feststellung, dass die von der Beklagten ihm gegenüber am 8. August 2019 für den Zeitraum vom 8. August 2019 bis zum 18. August 2019 wegen häuslicher Gewalt erlassene Wegweisung sowie das zeitgleich erlassene Aufenthaltsverbot rechtswidrig waren, hat nach summarischer Prüfung im Zeitpunkt der Entscheidungsreife über den Prozesskostenhilfeantrag hinreichende Aussicht auf Erfolg. Dabei ist in Bezug auf den im Prozesskostenhilfeverfahren anzulegenden Prüfungsmaßstab zu berücksichtigen, dass die Prüfung der Erfolgsaussicht nicht dazu dienen soll, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (BVerfG, Beschl. v. 4.10.2017 – 2 BvR 846/17 – juris Rn. 12). Schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen grundsätzlich im Hauptsacheverfahren geklärt werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.11.2017 – 2 BvR 902/17 – juris Rn. 12; OVG MV, Beschl. v. 6.3.2006 – 1 O 32/06 – juris Rn. 10). Ausgehend von diesen Maßstäben ist die hinreichende Erfolgsaussicht vorliegend zu bejahen. Die Klage des Klägers ist voraussichtlich zulässig (a)) und begründet (b)).

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a) Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft. Der Kläger verfügt auch über das für die Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliche Feststellungsinteresse.

9

aa) Der Senat teilt zwar nicht die vom Kläger in der Beschwerde vorgetragene Ansicht, dass sich dieses Feststellungsinteresse vorliegend daraus ergebe, dass er sich „die Möglichkeit der Geltendmachung zivilrechtlicher Schadenersatzansprüche“ offen halten möchte, die „nach Abschluss dieses Verfahrens zu folgen“ habe. Denn zum einen setzt die Geltendmachung eines sog. Präjudizinteresses – wie die Beklagte in ihrer Erwiderung vom 7. Januar 2022 (s. S. 27 f. des PKH-Hefts) zutreffend ausgeführt hat – voraus, dass sich der Verwaltungsakt, auf den sich die Feststellung beziehen soll, nach Klageerhebung erledigt hat (vgl. OVG NW, Urt. v. 7.12.2021 – 5 A 2000/20 – juris Rn. 66, m.w.N.). Hier haben sich die streitgegenständlichen auf § 17 a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 NPOG gestützten polizeilichen Maßnahmen jedoch bereits am 8. August 2019 durch den Erlass des in der Gewaltschutzsache ergangenen Beschlusses des Amtsgerichts E. vom 8. August 2019 (-G. -) erledigt, denn gemäß § 17 a Abs. 2 Satz 3 NPOG werden Maßnahmen nach § 17 a Abs. 1 NPOG mit dem Zeitpunkt einer nach dem Gewaltschutzgesetz ergangenen einstweiligen Anordnung oder sonstigen gerichtlichen Entscheidung unwirksam. Zum anderen erfordert die Geltendmachung eines Präjudizinteresses, dass der zivilrechtliche Prozess entweder bereits anhängig oder mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist (NdsOVG, Beschl. v. 29.8.2007 – 10 LA 31/06 – juris Rn. 6, m.w.N.). Der Kläger legt mit seiner Beschwerde jedoch nicht dar, dass eine zivilgerichtliche Klage mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist. So hat er insbesondere nichts dazu vorgetragen, welcher (materielle) Schaden ihm durch die streitgegenständliche Wegweisung entstanden sein soll bzw. welchen immateriellen Schaden er in welcher Höhe geltend machen möchte. Das Vorbringen des Klägers, nach Abschluss dieses Verfahrens möglicherweise zivilrechtliche Schadenersatzansprüche verfolgen zu wollen, stellt sich insofern als unsubstantiierte Behauptung dar, die den Anforderungen an die Darlegung eines Präjudizinteresses nicht genügt (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 29.8.2007 – 10 LA 31/06 – juris Rn. 6; Decker, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 1.10.2022, § 113 Rn. 87.3).

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bb) Im Rahmen der summarischen Prüfung ergibt sich das Feststellungsinteresse des Klägers nach Auffassung des Senats jedoch unter Berücksichtigung des Gebots des effektiven Rechtsschutzes daraus, dass es sich bei den streitgegenständlichen Maßnahmen um sich typischerweise kurzfristig erledigende polizeiliche Maßnahmen gehandelt hat. Bei derartigen Maßnahmen geht das Bundesverwaltungsgericht, dem der Senat diesbezüglich folgt, davon aus, dass ein durch Art. 19 Abs. 4 GG geschütztes Feststellungsinteresse auch dann besteht, wenn der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung eröffneten (Hauptsache-)Instanz ansonsten nicht erlangen kann (BVerwG, Beschl. v. 16.1.2017 – 7 B 1/16 – juris Rn. 25, sowie Urt. v. 16. 5.2013 – 8 C 14/12 – juris Rn. 30 f.; Senatsurt. v. 2.12.2021 – 11 LB 231/20 – juris Rn. 28, jeweils m.w.N.). In solchen Konstellationen gebietet es das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, auch dann die Rechtmäßigkeit des Eingriffs gerichtlich klären zu lassen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.5.2013 – 8 C 20/12 – juris Rn. 22 f.; Decker, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 1.10.2022, § 113 Rn. 87.4, jeweils m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier nach summarischer Prüfung vor. Da die streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen hier, wie ausgeführt, durch den Erlass des in der Gewaltschutzsache ergangenen Beschlusses des Amtsgerichts Soltau vom 8. August 2019
(-G. -) unwirksam geworden sind und sich damit erledigt haben, kann der Kläger in der von der (Verwaltungs-)Prozessordnung eröffneten (Hauptsache-)Instanz ansonsten keinen Rechtsschutz erlangen und eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung der streitgegenständlichen Maßnahme nicht herbeiführen.

11

Soweit das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung darauf verwiesen hat, dass der Kläger die Möglichkeit gehabt hätte, gegen den Beschluss des Amtsgerichts Beschwerde einzulegen, steht dies der Bejahung eines Feststellungsinteresses im Rahmen der vorliegend maßgeblichen summarischen Prüfung aus Sicht des Senats nicht entgegen. Denn mit einer gegen den amtsgerichtlichen Beschluss eingelegten Beschwerde hätte der Kläger „nur“ die gerichtliche Überprüfung der amtsgerichtlichen Entscheidung, nicht jedoch der streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen erreichen können. Die amtsgerichtliche Entscheidung und die streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen unterliegen jedoch – zumindest teilweise – unterschiedlichen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen und haben unterschiedliche Wirkungen und Rechtsfolgen. Entsprechendes gilt für die gegen die amtsgerichtliche Entscheidung einerseits und gegen die streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen andererseits bestehenden Rechtsbehelfe; auch diese unterliegen ihrerseits unterschiedlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen und sind zudem in verschiedenen Gerichtsbarkeiten, in denen jeweils andere Verfahrensordnungen gelten, einzulegen. Insofern kann der Kläger auch nicht darauf verwiesen werden, aus einer potenziellen zivilrechtlichen Beschwerdeentscheidung verlässliche Rückschlüsse in Bezug auf die verwaltungsrechtliche Bewertung der streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen ziehen zu können. Vielmehr erfordert es in einer derartigen Konstellation das Gebot des effektiven Rechtsschutzes, dass der Kläger die streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen trotz der bereits vor Klageerhebung eingetretenen Erledigung einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung zuführen kann (a.A. wohl VG Hannover, Urt. v. 18.9.2014 – 10 A 128/13 – juris Rn. 24).

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b) Die streitgegenständlichen polizeilichen Anordnungen erweisen sich auch sowohl unter formellen (aa) als auch unter materiellen Gesichtspunkten (bb) als voraussichtlich rechtswidrig.

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aa) Formelle Bedenken ergeben sich daraus, dass Überwiegendes dafür spricht, dass der Kläger vor Erlass der streitgegenständlichen Maßnahmen entgegen § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 28 Abs. 1 VwVfG nicht angehört wurde. Eine Anhörung wäre hier erforderlich gewesen (1), wurde aber voraussichtlich nicht durchgeführt (2) und war auch nicht entbehrlich (3). Der dadurch begründete formelle Mangel ist auch nicht nach § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 45 VwVfG (4) oder § 46 VwVfG unbeachtlich (5).

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(1) Gemäß § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 28 Abs. 1 VwVfG ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Bei den streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen der Wegweisung und des Aufenthaltsverbots handelte es sich um Verwaltungsakte, die in die Rechte des Klägers eingegriffen haben, so dass eine Anhörung erforderlich war (vgl. Waechter, in: Möstl/Weiner, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen, Stand: 1.11.2022, § 17 a NPOG Rn. 7; VG Köln, Urt. v. 7.10.2010 – 20 K 620/10 – juris Rn. 15 ff.; VG Göttingen, Beschl. v. 18.8.2020 – 1 B 229/20 – juris Rn. 2).

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(2) Im Rahmen der vorliegenden nur gebotenen und möglichen summarischen Prüfung geht der Senat trotz der insofern teilweise widersprüchlichen Angaben in den vorliegenden Akten davon aus, dass eine Anhörung des Klägers vor Erlass der streitgegenständlichen Maßnahmen nicht stattgefunden hat. Dafür, dass eine Anhörung nicht stattgefunden hat, sprechen neben dem entsprechenden Vortrag des Klägers sowohl die in dem polizeilichen Vermerk vom 8. August 2019 sowie die in dem vom Kläger vorgelegten Formular enthaltenen Angaben (s. Bl. 15 der Akte F. sowie Bl. 6 GA). So wurde in dem Formular insbesondere das unter der Überschrift „5.2 Anhörung“ enthaltene Feld „Die/Der Betroffene ist angehört worden. Sie/Er nutzte die Gelegenheit zur Stellungahme wie folgt“ gerade nicht angekreuzt. Im polizeilichen Vermerk vom 8. August 2019 heißt es, dass dem Kläger „die Sachlage erklärt und ihm gegenüber eine Wegweisung für die Ehewohnung bis einschließlich dem 18.8.2019 ausgesprochen“ worden sei. Eine schlichte Erklärung bzw. die Aussprache einer Wegweisung stellt jedoch keine Anhörung i.S.d. § 28 Abs. 1 VwVfG dar, da eine solche voraussetzt, dass dem Beteiligten die Gelegenheit gegeben wird, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (vgl. Herrmann, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand: 1.10.2022, § 28 Rn. 15, m.w.N.). Der Beteiligte muss also zu Wort kommen können, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können (Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 28 Rn. 37, m.w.N.). Dass dem Kläger eine entsprechende Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt wurde, lässt sich weder dem polizeilichen Vermerk vom 8. August 2019 noch dem vom Kläger vorgelegten Formular entnehmen. Der Kläger hat die Nichtdurchführung der Anhörung zudem konsequent sowohl erstinstanzlich als auch im Beschwerdeverfahren beanstandet. Auch das Verwaltungsgericht ist in der angefochtenen Entscheidung davon ausgegangen, dass eine Anhörung des Klägers vor Erlass der streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen nicht stattgefunden hat.

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Soweit die Beklagte mit Schriftsatz vom 25. Juni 2021 ausgeführt hat, die Wegweisung und das Aufenthaltsverbot seien „nach vorheriger Erörterung der Sachlage ausgesprochen“ worden (siehe Seite 3 = Bl. 55 GA des Schriftsatzes der Beklagten vom 25.6.2021), bleibt bereits unklar, was genau in diesem Zusammenhang mit einer „vorherigen Erörterung“ gemeint sein soll und ob diese überhaupt die Voraussetzungen einer Anhörung erfüllt hätte. Unabhängig davon lassen sich diese Ausführungen nicht mit den sonstigen, soeben näher dargelegten in den Akten enthaltenen Angaben in Einklang bringen. Zudem ist die Beklagte selbst offenbar von dem Vortrag, dass eine Anhörung stattgefunden habe, abgerückt, da sie dazu zuletzt im Beschwerdeverfahren vorgetragen hat, dass eine Anhörung gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG entbehrlich gewesen sei (s. Schriftsatz vom 7.1.2022, Bl. 28 f. des PKH-Hefts). Diese von der Beklagten zuletzt vorgetragene Argumentation – bei der sie sich offensichtlich auch insofern den Ausführungen des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Beschluss angeschlossen hat – macht aber nur dann Sinn, wenn eine Anhörung nicht durchgeführt wurde. Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung geht der Senat somit für das hier vorliegende Beschwerdeverfahren davon aus, dass der Kläger vor Erlass der streitgegenständlichen Maßnahmen nicht angehört wurde. Ggf. muss diesbezüglich eine weitergehende Aufklärung im Hauptsacheverfahren erfolgen.

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(3) Der Senat teilt auch die Ansicht des Klägers, dass eine Anhörung – anders als vom Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung angenommen – voraussichtlich nicht entbehrlich war. Nach § 28 Abs. 2 VwVfG kann von einer Anhörung abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalles nicht geboten ist (Halbsatz 1), was insbesondere in den in den Nummern 1 bis 5 des 2. Halbsatzes des § 28 Abs. 2 VwVfG näher angeführten Fällen in Betracht kommt.

18

Der Annahme, dass eine Anhörung hier nach den Umständen des Einzelfalls i.S.d. § 28 Abs. 2 Halbsatz 1 VwVfG nicht geboten war, steht bereits entgegen, dass ein Absehen von einer Anhörung nach dieser Vorschrift einer behördlichen und mit nachprüfbaren Gründen versehenen Entscheidung bedarf, aus der sich mit hinreichender Deutlichkeit ergibt, dass die Behörde sachgerechte Ermessenserwägungen angestellt und aus welchen Gründen sie von der Anhörung abgesehen hat (Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 28 Rn. 49, m.w.N.). Vorliegend fehlt es diesbezüglich sowohl an (der Dokumentation) einer derartigen behördlichen Entscheidung als auch an einer nachprüfbaren Begründung.

19

Auch die Voraussetzungen des vom Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung herangezogenen § 28 Abs. 2 Halbsatz 2 Nr. 1 VwVfG lagen voraussichtlich nicht vor. Danach kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint. Gefahr im Verzug im Sinne der Vorschrift liegt vor, wenn durch eine vorherige Anhörung auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust einträte, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge haben würde, dass die durch den Verwaltungsakt zu treffende Regelung zu spät käme, um ihren Zweck noch zu erreichen, was in jedem Einzelfall auf Grundlage einer ex-ante-Sicht zu beurteilen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.1983 – 3 C 27/82 – juris Rn. 55 f.; Herrmann, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand: 1.10.2022, § 28 Rn. 24, m.w.N.). Geht es – wie hier – um den Erlass einer polizeilichen Wegweisung/eines Aufenthaltsverbots kommt das Vorliegen einer Gefahr im Verzug insbesondere in Betracht, wenn sich der Betroffene nicht mehr in der Wohnung der geschädigten Person aufhält und sein Aufenthaltsort unbekannt ist (vgl. VG Köln, Urt. v. 7.10.2010 – 20 K 620/10 – juris Rn. 20). Ist dies jedoch nicht der Fall, so ist ein Absehen von der Anhörung nur in besonderen Fällen denkbar, etwa wenn der Betroffene nicht vernehmungsfähig ist (vgl. VG Köln, Urt. v. 7.10.2010 – 20 K 620/10 – juris Rn. 20).

20

Im Rahmen der hier vorzunehmenden summarischen Prüfung geht der Senat auf der Grundlage der vorliegenden Akten davon aus, dass sich der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Maßnahmen zusammen mit den beiden Polizeibeamten in der Wohnung in der D. in E. befand. Dies folgt zunächst aus den Angaben der Beteiligten, die insofern übereinstimmend angegeben haben, dass die streitgegenständlichen Maßnahmen in Gegenwart des Klägers angeordnet wurden (vgl. Schriftsatz des Klägers vom 9.9.2019, Bl. 1 ff. GA, Schriftsatz der Beklagten vom 25.6.2021, dort heißt es auf Seite 3 = Bl. 55 GA: „Dem Kläger gegenüber wurde […] eine Wegweisung und ein Aufenthaltsverbot für die Wohnung […] ausgesprochen. Der Kläger packte im Beisein der Beamten persönliche Gegenstände und verließ die Wohnung“). Dass die streitgegenständlichen Maßnahmen in Gegenwart des Klägers angeordnet wurden, ergibt sich auch eindeutig aus den Angaben in dem polizeilichen Vermerk vom 8. August 2019 (s. Bl. 15 der Akte F.). Der Umstand, dass in dem vom Kläger mit Klageerhebung vorgelegten Formular auf Seite 2 unter der Überschrift „5.2 Anhörung“ – offensichtlich bereits am PC angekreuzt und ausgefüllt – angegeben wurde, dass der Betroffene nicht habe angehört werden können, „weil zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung nicht zugegen und aktueller Aufenthaltsort nicht bekannt“ gewesen sei (s. Bl. 6 GA), rechtfertigt jedenfalls im Rahmen der vorliegenden summarischen Prüfung keine andere Beurteilung. Denn die Angaben in dem Formular widersprechen sowohl den Ausführungen in dem polizeilichen Vermerk vom 8. August 2019 als auch den insofern übereinstimmenden schriftsätzlichen Ausführungen der Verfahrensbeteiligten, so dass den Angaben im Formular bereits aus diesem Grund kein weiteres Gewicht beizumessen ist. Abgesehen davon erscheint es nicht abwegig, dass die in dem vom Kläger vorgelegten Formular enthaltenen Angaben darauf zurückzuführen sind, dass dieses Formular teilweise – soweit es offensichtlich an einem PC ausgefüllt wurde – bereits auf der Polizeiwache ausgefüllt wurde, der Kläger zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nicht (auf der Wache) zugegen war und die handelnden Beamten noch nicht mit Sicherheit sagen konnten, ob der Kläger später in der Wohnung angetroffen werden würde. Dies ändert aber nichts daran, dass auf der Grundlage der vorliegenden Akten Überwiegendes dafür spricht, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Anordnungen der Aufenthaltsort des Klägers den vor Ort in der Wohnung befindlichen Beamten offensichtlich bekannt war, weil der Kläger selbst in der Wohnung anwesend war. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht vernehmungsfähig gewesen wäre oder sonstige Besonderheiten vorgelegen hätten, die der Durchführung einer Anhörung entgegengestanden hätten, liegen ebenfalls nicht vor. Vielmehr heißt es in dem polizeilichen Vermerk vom 8. August 2019 u.a., dass der Kläger angegeben habe, die ihm gegenüber ausgesprochenen Maßnahmen verstanden zu haben. Bei einer Gesamtbetrachtung der am 8. August 2019 in der damaligen Wohnung des Klägers bestehenden Situation wäre es somit ohne Weiteres möglich gewesen, den Kläger vor Erlass der Maßnahmen mündlich anzuhören, ohne dass deshalb eine maßgebliche Verzögerung der Entscheidung zu befürchten gewesen wäre (vgl. VG Göttingen, Beschl. v. 18.8.2020 – 1 B 229/20 – juris Rn. 2; siehe auch Waechter, in: Möstl/Weiner, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen, Stand: 1.11.2022, § 17 a NPOG Rn. 7).

21

(4) Das Fehlen der danach erforderlichen Anhörung ist auch nicht gemäß § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG unbeachtlich. Nach der genannten Vorschrift ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach § 44 VwVfG nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Zwar können Handlungen nach § 45 Abs. 1 VwVfG gemäß § 45 Abs. 2 VwVfG grundsätzlich bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Unterbleibt – wie hier – die Anhörung, tritt eine Heilung aber nur ein, soweit die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 – 3 C 16/11 – juris Rn. 18 u. Beschl. v. 18.4.2017 – 9 B 54/16 – juris Rn. 4). Vor diesem Hintergrund kommt hier eine Heilung des Verfahrensfehlers durch die Nachholung der Anhörung nicht in Betracht. Denn dadurch, dass sich die streitgegenständlichen Anordnungen bereits am 8. August 2019 und damit vor Klageerhebung erledigt hatten, hätte eine nachträgliche Anhörung ihre Funktion nicht mehr erfüllen können (vgl. VGH BW, Urt. v. 27.2.2006 – 6 S 1508/04 – juris Rn. 40; VG Köln, Urt. v. 7.10.2010 – 20 K 620/10 – juris Rn. 21 f.; VG Oldenburg, Urt. v. 22.5.2012 – 7 A 3069/12 – juris Rn. 45; VG Düsseldorf, Urt. v. 5.7.2016 – 18 K 3843/15 – juris Rn. 12, jeweils m.w.N.).

22

(5) Die fehlende Anhörung ist voraussichtlich auch nicht gemäß § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 46 VwVfG unbeachtlich. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 VwVfG nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Eine entsprechende Offensichtlichkeit setzt voraus, dass jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass bei Einhaltung der Vorschrift die Entscheidung hätte anders ausfallen können. Ein derartiger Ausschluss der Möglichkeit einer anderen Entscheidung kommt vor allem bei gebundenen Entscheidungen in Betracht, bei denen die Behörde beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen eine bestimmte Rechtsfolge zu wählen hat. Demgegenüber ist die Möglichkeit einer anderen Entscheidung insbesondere bei Ermessensentscheidungen im Regelfall nicht auszuschließen (vgl. dazu insges. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 46 Rn. 25 a ff. m.w.N.).

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Vorliegend ist bereits fraglich, ob die Vorschrift des § 46 VwVfG auf die – hier vorliegende – Fortsetzungsfeststellungsklage überhaupt Anwendung findet (ebenfalls zweifelnd, aber offengelassen: BVerwG, Urt. v. 15.12.1983 – 3 C 27/82 – juris Rn. 55; VG Oldenburg, Urt. v. 26.6.2012 – 7 A 3177/12 – juris Rn. 25; VG Köln, Urt. v. 7.10.2010 – 20 K 620/10 – juris Rn. 23 f.). Letztlich kann diese Frage hier aber offen gelassen werden, da jedenfalls die Voraussetzungen des § 46 VwVfG nicht erfüllt sind. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die vorliegend herangezogenen Rechtsgrundlagen in § 17 a Abs. 1 Satz 2 und Satz 2 NPOG der Behörde sowohl ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen einräumen (vgl. Waechter, in: Möstl/Weiner, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen, Stand: 1.11.2022, § 17 a NPOG Rn. 22 ff., m.w.N.) und Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Ermessensreduktion auf Null nicht ersichtlich sind. Unabhängig davon ist vorliegend auch nicht jede Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Entscheidung im Fall einer vorherigen Anhörung des Klägers hätte anders ausfallen können. Hätte der Kläger beispielsweise vorgetragen, nicht zu wissen, wo er die Nacht verbringen sollte, hätten die anwesenden Beamten vor dem Hintergrund, dass sich die Ehefrau und die Tochter des Klägers am Abend des 8. August 2019 bereits bei der Mutter bzw. Großmutter und damit an einem vergleichbar „sicheren Ort“ befanden, dem Kläger ggf. noch gestatten können, eine weitere Nacht in der Wohnung zu verbringen, um eine ggf. andernfalls drohende Obdachlosigkeit des Klägers abzuwenden. Denn durch die Wegweisung darf keine neue Gefahr entstehen, insbesondere keine Obdachlosigkeit der weggewiesenen Person, so dass eine vorhandene Unterkunft der zu schützenden Person(en) in einer anderen Wohnung einer Wohnungsverweisung des (potenziellen) Adressaten der Wegweisung entgegenstehen kann (vgl. Waechter, in: Möstl/Weiner, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen, Stand: 1.11.2022, § 17 a NPOG Rn. 22; VG Osnabrück, Beschl. v. 10.12.2010 – 6 B 83/10 – juris Rn. 6 f.). Dementsprechend lässt sich vorliegend auch nicht – wie von § 46 VwVfG gefordert – jede Möglichkeit ausschließen, dass die Durchführung der erforderlichen Anhörung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hätte.

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bb) Unabhängig von den bisherigen Ausführungen dürften die streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen auch materiell-rechtlich zu beanstanden sein. Nach § 17 a Abs. 1 Satz 1 NPOG kann die Polizei eine Person für die Dauer von höchstens 14 Tagen aus der von ihr bewohnten Wohnung verweisen und ihr das Betreten der Wohnung und den Aufenthalt in einem bestimmten Umkreis der Wohnung untersagen, wenn dies erforderlich ist, um eine von dieser Person ausgehende gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung von einer in derselben Wohnung wohnenden Personen abzuwehren. Sie kann dieser Person nach § 17 a Abs. 1 Satz 2 NPOG für die Dauer von höchstens vierzehn Tagen auch untersagen, bestimmte andere Orte, an denen sich die gefährdete Person regelmäßig auffällt, zu betreten und sich in einem bestimmten Umkreis solcher Orte aufzuhalten, und sie von einem solchen Ort verweisen, wenn dies zum Schutz der gefährdeten Personen erforderlich ist. Gemäß § 17 a Abs. 1 Sätze 4 und 5 NPOG unterrichtet die Polizei die betroffene Person über Beratungsangebote und die Möglichkeit, Schutz nach dem Gewaltschutzgesetz zu beantragen.

25

Vorliegend ist bereits zweifelhaft, ob zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Maßnahmen am frühen Abend des 8. August 2019 die in § 17 a Abs. 1 Satz 1 NPOG geforderte gegenwärtige Gefahr – die gemäß § 2 Nr. 2 NPOG voraussetzt, dass die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen haben muss oder bei der diese Einwirkung unmittelbar oder in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht – (noch) vorlag. Jedenfalls spricht im Rahmen der summarischen Prüfung Überwiegendes dafür, dass die streitgegenständlichen, auf § 17 a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 NPOG gestützten polizeilichen Maßnahmen aufgrund des amtsgerichtlichen Beschlusses in der Gewaltschutzsache vom gleichen Tag – der dem Kläger faktisch gleichzeitig mit dem Erlass der streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen zugestellt wurde – nicht (mehr) erforderlich war.

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So war der Kläger bereits aufgrund des in der Gewaltschutzsache seiner damaligen Ehefrau gegen ihn erwirkten Beschlusses des Amtsgerichts E. vom 8. August 2021 verpflichtet, seiner damaligen Ehefrau die Wohnung in der D. in E. zur alleinigen Benutzung zu überlassen, und es war ihm untersagt, diese Wohnung zu betreten, sich der Wohnung bis auf eine Entfernung von 20 Metern zu nähern und seine damalige Ehefrau zu bedrohen, zu verletzen oder sonst körperlich zu misshandeln. Hinzu kommt, dass sich die damalige Ehefrau und ihre Tochter zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen sowie der Zustellung des amtsgerichtlichen Beschlusses nicht in der Wohnung in der D., sondern – wie bereits ausgeführt – bei der Mutter der damaligen Ehefrau befanden. Insofern lässt sich kaum feststellen, dass der Erlass der streitgegenständlichen Maßnahmen – wie von § 17 a Abs. 1 Satz 1 NPOG gefordert – erforderlich war, um eine von der weggewiesenen Person ausgehende gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung von einer in derselben Wohnung wohnenden Person abzuwehren.

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Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen werden vorliegend aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls – zeitgleicher Erlass bzw. Zustellung einer amtsgerichtlichen Entscheidung in einer Gewaltschutzsache und Anordnung von auf § 17 a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 NPOG gestützten polizeilichen Maßnahmen – auch unter teleologischen und systematischen Gesichtspunkten begründet. Denn auf § 17 a Abs. 1 Satz 1 NPOG gestützte Maßnahmen dienen primär dazu, dem Opfer die für die Stellung eines zivilrechtlichen Antrags nach dem Gewaltschutzgesetz erforderliche Zeit und Ruhe einzuräumen (vgl. Waechter, in: Möstl/Weiner, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen, Stand: 1.11.2022, Vorb. zu § 17 a; VG Hannover, Urt. v. 18.9.2014 – 10 A 128/13 – juris Rn. 31, vgl. auch LT-Drs. 15/240 S. 11). Stellt die gefährdete Person während der Dauer einer Maßnahme nach § 17 a Abs. 1 NPOG einen Antrag auf gerichtliche Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz, so verlängert die Polizei die Maßnahmen um 10 Tage, § 17 a Abs. 2 Satz 1 NPOG. Wird eine gerichtliche Entscheidung in einer Gewaltschutzsache getroffen, werden Maßnahmen nach § 17 a Abs. 1 Satz 1 NPOG unwirksam, § 17 a Abs. 2 Satz 3 NPOG (siehe dazu auch obige Ausführungen). Aus dieser gesetzlichen Systematik wird erkennbar, dass Maßnahmen nach § 17 a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 NPOG somit vorrangig dazu dienen, Anordnungen bis zum Erlass einer zivilgerichtlichen Entscheidung in einer Gewaltschutzsache treffen zu können, also den Zeitraum, in dem die gefährdete Person noch nicht durch eine zivilgerichtliche Maßnahme nach dem Gewaltschutzgesetz geschützt ist, „zu überbrücken“ (vgl. auch § 1 Abs. 3 NPOG sowie LT-Drs. 15/240 S. 11). Damit dürfte zugleich in dem Fall, dass bereits – wie hier – eine zivilgerichtliche Entscheidung in einer Gewaltschutzsache in Bezug auf die betroffenen Personen vorliegt, die Notwendigkeit für eine polizeiliche Gefahrenabwehrmaßnahme entfallen. Vor diesem Hintergrund bestehen auch unter materiellen Gesichtspunkten hinreichende Erfolgsaussichten für die vom Kläger erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage.

28

2. Der Kläger hat auch hinreichend dargelegt, nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen zu können. Der Senat hat vorliegend von der Möglichkeit des § 166 Abs. 2 i.V.m. § 87 a Abs. 3 VwGO Gebrauch gemacht und der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle u.a. die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse übertragen (s. dazu die auch den Beteiligten übermittelte Verfügung der Berichterstatterin vom 9.11.2022, Bl. 32 des PKH-Hefts). Diese Prüfung der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat ergeben, dass dem Kläger auf der Grundlage der von ihm angegebenen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse Prozesskostenhilfe ohne Raten zu bewilligen ist (s. dazu die Berechnung der Urkundsbeamtin vom 11.11.2022, Bl. 33 des PKH-Hefts).

29

Die Entscheidung über die Beiordnung beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.

30

Die Kostenentscheidung folgt aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.

 


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