Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Göttingen 1. Kammer | 1 A 14/22 | Urteil | Russische Föderation – Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für Internetaktivisten

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Aufgrund dieser öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten wäre der Kläger, der nach glaubhaften Angaben bereits vor seiner Ausreise jedenfalls den russischen Ermittlungsbehörden bekannt geworden ist, im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch staatliche Akteure ausgesetzt, ohne dass eine interne Fluchtalternative bestünde. Das ergibt sich aus den von der Einzelrichterin ausgewerteten Erkenntnismitteln zur Strafverfolgung von Internetaktivisten wie dem Kläger. Danach ist die Meinungs- und ist in der Russischen Föderation zwar verfassungsrechtlich garantiert, wird aber durch ein „ständig dichter werdendes Netz einschränkender und bestrafender Vorschriften“ beschränkt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.05.2021, Stand: Oktober 2020, S. 6). Für den Einzelnen ist nicht absehbar, ob er aufgrund einzelner Äußerungen oder Handlungen damit rechnen muss, strafrechtlich belangt zu werden (Auswärtiges Amt, ebd.). Zu den Straftatbeständen, auf die die Behörden zurückgreifen, zählen der Straftatbestand des Schürens von Hass und Feindseligkeit gegen bestimmte Gruppen (Art. 282 Strafgesetzbuch), außerdem das Extremismusgesetz (Gesetz Nr. 114) oder der Straftatbestand der Verleumdung. Ein im März 2019 in Kraft getretenes Gesetz sieht für die online getätigte Herabwürdigung der Gesellschaft, des Staats, seiner Verfassung, Symbole oder Organe eine Administrativstrafe von bis zu 100.000 Rubel oder 15 Tagen Arrest vor (Auswärtiges Amt, ebd.). Mit dem Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine wurde das Strafrecht weiter deutlich verschärft. Am 04.03.2022 wurden das Ordnungswidrigkeitengesetz und das Strafgesetzbuch um Vorschriften ergänzt, nach denen die Verbreitung von falschen Informationen über russische Militäreinsätze und die Herabwürdigung der russischen Armee mit Geldbußen von bis zu 1,5 Mio. Rubel oder einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren geahndet werden (European Union Agency for Asylum – EUAA -, Country of Origin Query: Russian Federation, vom 05.04.2022, S. 7). Nach Berichten von Amnesty International wurden in wenigen Tagen nach Inkrafttreten der Vorschriften 140 Personen verhaftet (EUAA, ebd., mit Nachweis). Am 22.03.2022 wurde die „Fake news“-Gesetzgebung weiter verschärft; die Klägervertreterin hat zutreffend im gerichtlichen Verfahren auf den entsprechenden Straftatbestand hingewiesen. Diese besonders hohen Strafandrohungen stellen für sich genommen bereits eine unverhältnismäßige Bestrafung i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 3 AsylG und damit eine Verfolgungshandlung dar. Dazu treten beachtliche Einschränkungen im gerichtlichen Strafverfahren hinsichtlich der Einhaltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens (vgl. UNDOS, Russia 2021 Human Rights Report, S. 18 ff.) sowie die Haftbedingungen in russischen Gefängnissen als weitere Aspekte, die zu einer unverhältnismäßigen Strafverfolgung und Bestrafung führen. Verurteilte Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien, Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien oder in einem Gefängnis untergebracht. Die Verhältnisse sind unterschiedlich. Jedenfalls in Gefängnissen sind die Haftbedingungen unmenschlich und entwürdigend (Auswärtiges Amts, a.a.O., S. 17 f.). Sie sind von Überfüllung, Übergriffen durch Wärter und andere Insassen, beschränktem Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, Mangel an Essen und unzureichenden hygienischen Bedingungen geprägt (UNDOS, a.a.O., S. 10). Insbesondere politische Gefangene, die u.a. wegen „Terrorismus“, „Extremismus“, „Separatismus“ oder Spionage verurteilt worden sind, werden besonders harten Haftbedingungen unterworfen, zu denen auch Einzelhaft oder die Unterbringung in psychiatrischen Abteilungen gehören (UNDOS, a.a.O., S. 20).

Original Quelle Niedersachsen.de

Bilder Pixabay / Original Quelle

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