Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Hannover 1. Kammer | 1 A 517/22 | Urteil | Kommunalverfassungsstreit eines Ratsherrn gegen den Rat und den Gemeindewahlleiter („unechte“ Wahlprüfungsklage)

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Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Hannover 1. Kammer | 1 A 517/22 | Urteil | Kommunalverfassungsstreit eines Ratsherrn gegen den Rat und den Gemeindewahlleiter („unechte“ Wahlprüfungsklage)

Außerdem kann im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits zwar die Verletzung von Mitgliedschaftsrechten geltend gemacht werden, es können aber nicht ein eigener Wahleinspruch oder die Wahleinsprüche Dritter verfolgt werden. Die Integrität einer bereits durchgeführten Kommunalwahl kann nur in den gesetzlich dafür vorgesehenen Formen des Wahlprüfungsverfahrens vor der Vertretung (§§ 46 ff. NKWG) und einer sich gegebenenfalls anschließenden verwaltungsgerichtlichen Wahlprüfungsklage (§ 49 Abs. 2 NKWG) in Frage gestellt werden. Die Entscheidung über Wahleinsprüche obliegt gemäß § 47 Abs. 1 NKWG der Vertretung. Bei deren Tätigkeit als Wahlprüfungsorgan handelt es sich um ein „durchaus eigentümliches Untersuchungsverfahren“, das nicht auf eine Kontrolle der Tätigkeit des Gemeindedirektors, sondern darauf abzielt, im Wege einer Überprüfung der eigenen Legitimationsgrundlagen durch die neugewählte Vertretungskörperschaft möglichst bald Gewissheit über deren ordnungsgemäße Zusammensetzung zu gewinnen und so einen ungestörten Fortgang der gemeindlichen Funktionsausübung zu gewährleisten (OVG Münster, Beschl. v. 07.01.1985 -15 B 2697/84 -, NVwZ 1985, 843). Nach § 48 Abs. 1 NKWG wird der Wahleinspruch zurückgewiesen, wenn er 1. unzulässig oder zulässig, aber unbegründet ist oder 2. zwar zulässig und begründet ist, aber der Rechtsverstoß auch im Zusammenhang mit anderen Rechtsverstößen das Wahlergebnis nicht oder nur unwesentlich beeinflusst hat. Nach § 48 Abs. 2 NKWG wird 1. das Wahlergebnis neu festgestellt oder berichtigt oder 2. die Wahl ganz oder teilweise für ungültig erklärt, wenn ein Wahleinspruch nicht nach § 48 Abs. 1 NKWG zurückzuweisen ist. Die Vertretung setzt die Wahlprüfungsentscheidung gemäß § 49 Abs. 1 NKWG als Bescheid um, der den Beteiligten zugestellt wird. Gegen die Entscheidung kann gemäß § 49 Abs. 2 NKWG Klage erhoben werden. Mit Blick auf die in § 48 Abs. 2 NKWG normierten Rechtsfolgen ist die Verpflichtungsklage die richtige Klageart (vgl. zur richtigen Klageart einer Wahlprüfungsklage: Nds. OVG, Urt. v. 26.03.2008 – 10 LC 203/07 -, juris Rn. 22; Urt. d. Kammer v. 09.02.2016 – 1 A 12763/14 -, juris Rn. 33; zu den früher vertretenen Sichtweisen: Thiele/Kamlage, Niedersächsisches Kommunalwahlrecht, 5. Aufl., § 49 Rn. 4 m. w. N.). Im Rahmen einer auf die Verpflichtung zur Ungültigkeitserklärung einer Wahl gerichteten Klage prüft das Gericht in gleicher Weise wie die Vertretung, ohne aber an deren Wertungen gebunden zu sein, was dem primär objektivrechtlichen Charakter des Wahlprüfungsverfahrens Rechnung trägt (Urt. d. Kammer v. 14.03.2022 – 1 A 6477/21 -, juris Rn. 26). Dabei unterscheidet sich die kommunalrechtliche Wahlprüfung maßgeblich von der Wahlprüfung im Falle von Bundestagswahlen. Gemäß § 1 Abs. 1 des Wahlprüfungsgesetzes (WahlPrG) entscheidet der Bundestag nämlich nicht nur über die Gültigkeit der Bundestagswahlen, soweit sie der Wahlprüfung unterliegen, sondern auch über die Verletzung von Rechten bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahl. Sofern bei der Vorbereitung oder Durchführung der Wahl Rechte einer einsprechenden Person oder einer Gruppe einsprechender Personen verletzt wurden, stellt der Bundestag die Rechtsverletzung fest, wenn er die Wahl nicht für ungültig erklärt (§ 1 Abs. 2 Satz 2 WahlPrG). Eine entsprechende Feststellung trifft gemäß § 48 Abs. 3 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Verfahrens über eine Wahlprüfungsbeschwerde. So hat das Bundesverfassungsgericht unlängst die Wahlprüfungsbeschwerde der NPD gegen die Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 21. Februar 2019, mit der ihr Einspruch gegen die Wahl des 19. Deutschen Bundestages am 24. September 2017 im Land Berlin, der sich auf die Nichtzulassung der Landesliste der NPD gestützt hatte, zwar wegen unzureichender Darlegung der Mandatsrelevanz verworfen, soweit er sich gegen die Gültigkeit der Wahl im Land Berlin richtete; es hat jedoch in der Nichtzulassung der Landesliste einen Wahlfehler gesehen, der die Beschwerdeführer in ihren Rechten verletzt (Beschl. v. 23.03.2022 -2 BvC 22/19 -, juris Rn. 43 f.). Ein derartiges Prüfprogramm, bei dem es unabhängig von der Mandatsrelevanz selbständig um die Verletzung von Rechten bei der Vorbereitung oder Durchführung der Wahl geht, ist für die kommunalrechtliche Wahlprüfungsklage gemäß dem NKWG jedoch nicht vorgesehen. Anders als bei Bundestagswahlen spielen schlichte Verfahrensfehler ohne Mandatsrelevanz mithin im gerichtlichen Wahlprüfungsverfahren keine Rolle. Aber selbst im Falle von Bundestagswahlen betrifft die Wahlprüfung nur die Rechtsverletzungen „bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahl“ und keine Rechtsverletzungen im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens selbst. Zum Prüfprogramm einer gerichtlichen Wahlprüfung gehört daher grundsätzlich nicht die Frage, ob der Vertretung oder der Wahlleitung bei der Bearbeitung des Wahleinspruchs Verfahrensfehler unterlaufen sind. Eine Ausweitung der gerichtlichen Prüfung auf die Abläufe beim Zustandekommen der Wahlprüfungsentscheidung der Vertretung sieht das Gesetz nicht vor und hierfür könnte ausnahmsweise auch nur dann Veranlassung bestehen, wenn ein Wahlprüfungsverfahren de facto gar nicht durchgeführt worden ist. Grundsätzlich ist die Situation aber vergleichbar mit dem Umfang der zweitinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung einer gerichtlichen Entscheidung nach zugelassener Berufung: nach Zulassung der Berufung wegen eines Verfahrensfehlers gemäß §§ 124 Abs. 2 Nr. 5, 124a VwGO prüft das Oberverwaltungsgericht den Streitfall innerhalb des Berufungsantrags im gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht (§ 128 VwGO), ohne dass es auf den in der ersten Instanz aufgetretenen Verfahrensfehler noch ankommt.

Original Quelle Niedersachsen.de

Bilder Pixabay / Original Quelle

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