Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Hannover 12. Kammer | 12 A 1928/18 | Urteil | Kein Anspruch einer Yezidin aus dem Distrikt Semel der Provinz Dohuk auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen westlicher Identitätsprägung

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Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Hannover 12. Kammer | 12 A 1928/18 | Urteil | Kein Anspruch einer Yezidin aus dem Distrikt Semel der Provinz Dohuk auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen westlicher Identitätsprägung

Zwar hat sich die Stellung der Frau im Irak im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. So werden Frauen und Mädchen unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. der Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. In den Familien sind patriarchalische Strukturen und häusliche Gewalt weit verbreitet. Auch der Zugang zu Bildung und die Teilnahme am Arbeitsmarkt wird Frauen überproportional verwehrt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.10.2021, S. 13 f.; dazu ausführlich VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 – 12 A 1130/18 -, n.v., UA S. 7 ff., und Urt. v. 30.05.2022 – 12 A 12267/17 -, juris Rn. 28 ff., jeweils m.w.N.). Insbesondere Frauen, deren Verhalten nicht dem traditionellen Rollenbild entspricht, können massiven Übergriffen bis hin zur Tötung ausgesetzt sein, vor denen der irakische Staat sie nicht effektiv schützt (vgl. EUAA, Country of Origin Information Report, Iraq – Targeting of Individuals, Januar 2022, S. 78 ff.). Dies gilt trotz verschiedener Reformbemühungen grundsätzlich auch für die Region Kurdistan-Irak (vgl. VG Hannover, Urt. v. 18.03.2021 – 12 A 1130/18 -, n.v., UA S. 11 f., und Urt. v. 30.05.2022 – 12 A 12267/17 -, juris Rn. 39). In der traditionell ebenfalls patriarchalisch geprägten Gemeinschaft der Yeziden, zu der die Klägerin zu 2) zählt, hat sich – ausgelöst durch die Erfahrung von Völkermord und Vertreibung, die Verschleppung und Versklavung tausender Yezidinnen und unterstützt durch Programme zu Bildung und Frauenrechten in den Vertriebenenlagern – die Situation für Frauen jedoch mittlerweile deutlich verbessert. Einem auf der Internetseite Quantara.de, einem Projekt der Deutschen Welle, an dem auch das Goethe-Institut und das Institut für Auslandsbeziehungen als beratende Mitglieder im Projektbeirat beteiligt sind, veröffentlichten Artikel zufolge, dürfen yezidische Frauen ihr Dorf – anders als früher – ohne einen männlichen Vormund verlassen und auch Reisen unternehmen. Es wird berichtet, dass in lokalen Netzwerken und Initiativen engagierte Yezidinnen heute selbstbewusst Verhaltensweisen zeigten, die ihnen auch selbst bis vor einiger Zeit nur sehr schwer oder sogar undenkbar erschienen wären. So reisten sie etwa in andere Städte, um sich mit – größtenteils männlichen – Politikern zu treffen und über Gerechtigkeit und Entschädigung für ihre Glaubensgemeinschaft zu sprechen. Eine Yezidin aus Sindjar berichtet von yezidischen Frauen, die an Universitäten studierten, von Fahrschulen für Frauen sowie von einer Yezidin, die 2021 an den Wahlen zur „Miss Irak“ teilgenommen habe. Eine im Zusammenhang mit dem Artikel veröffentlichte Fotoaufnahme, die im Oktober 2021 am Eingang des – an der Grenze zur Region Kurdistan-Irak gelegenen – yezidischen Lalish-Tempels entstanden ist, zeigt neben zwei traditionell gekleideten Frauen mehrere weibliche Personen, die „westliche“ Kleidung (Hose, modisches Oberteil, kein Kopftuch) tragen (vgl. zum Vorstehenden Cathrin Schaer, Jesidinnen im Irak, Aufbruch nach der Tragödie, 09.01.2022, abrufbar unterhttps://de.qantara.de/inhalt/jesidinnen-im-irak-aufbruch-nach-der-tragoedie, zuletzt abgerufen am 25.11.2022). Die Richtigkeit dieser Angaben wird durch eine am 6. Mai 2022 auf ARTE ausgestrahlte Reportage über yezidische Frauen im Nordirak (Irak: Die überlebenden Jesidinnen, abrufbar unter https://www.arte.tv/de/videos/107048-000-A/irak-die-ueberlebenden-jesidinnen/, zuletzt abgerufen am 25.11.2022) bestätigt. Darin wird u.a. über ein von einer Nichtregierungsorganisation organisiertes Boxtraining für yezidische Frauen in einem Flüchtlingslager im Nordirak sowie über eine „Frauenversammlung“ berichtet, die in Sindjar eine Cafeteria für Familien (und nicht lediglich für Männer) eingerichtet, einen Park für Kinder gebaut sowie Arbeitsplätze für Frauen geschaffen habe, die zuvor nie gearbeitet hätten. Eine andere Szene zeigt, wie Mitglieder dieser Versammlung selbstbewusst – und trotz Verunglimpfungen in den sozialen Medien sowie telefonischen Drohungen durch den türkischen Geheimdienst – gegen die Präsenz der irakischen Armee und gegen die türkischen Bombenangriffe in der Region demonstrieren. Außerdem befasst sich die Reportage mit einem „vor dem Berg“ abgehaltenen „festlichen Tag zur Ehre der Frauen“, bei dem in Anwesenheit zahlreicher – gemeinsam mit den Frauen feiernder – Männer eine Aktivistin eine kämpferische Rede hält und im Anschluss zwei Frauen einen Karatekampf durchführen. Als Auslöser für diese emanzipatorischen Bestrebungen, von denen sich die interviewten Frauen nach eigenen Angaben auch nicht durch den (anfänglichen) Widerstand männlicher Familienangehöriger (und offenbar ebenso wenig durch die muslimische Bevölkerung in der Umgebung) abhalten ließen, wird – wie in dem vorbezeichneten Artikel – die Erfahrung des Völkermordes durch den IS identifiziert. Unter den in der Reportage gezeigten Frauen finden sich auch solche, die in der Öffentlichkeit geschminkt sind, ihre Fingernägel lackiert haben und/oder westliche Kleidung (beispielsweise eine Lederjacke, ein T-Shirt oder eine zerrissene Jeans) tragen.

Original Quelle Niedersachsen.de

Bilder Pixabay / Original Quelle

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