Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Hannover 3. Kammer | 3 A 5014/21 | Urteil | Eingliederungshilfe – Aufwendungserstattungsanspruch bei Systemversagen des Jugendhilfeträgers

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Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Hannover 3. Kammer | 3 A 5014/21 | Urteil | Eingliederungshilfe – Aufwendungserstattungsanspruch bei Systemversagen des Jugendhilfeträgers

So liegt der Fall auch hier. Die Beklagte hat dem Kläger trotz des bestehenden Anspruchs in rechtswidriger Weise keine Eingliederungshilfe gewährt, da sie bis zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung nicht über die begehrte Hilfe entschieden hatte. Der Kläger hat aufgrund des von der Beklagten bereits im Juli 2020 festgestellten eingliederungshilferechtlichen Bedarfs einen gebundenen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe. Diesen Anspruch hat die Beklagte nicht erfüllt. Sie hat dem Kläger keinen Therapieplatz angeboten bzw. keine Kostenzusage für einen Therapieplatz erteilt, um seine Teilhabebeeinträchtigung zu mildern. Darin liegt ein sogenanntes Systemversagen, das zur oben beschriebenen Verlagerung des Einschätzungsspielraums auf den Leistungsberechtigten führt. Die Untätigkeit der Beklagten bzgl. der Therapieplatzanbindung stellt ein Systemversagen dar, weil die Beklagte spätestens seit der Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung im Juli 2020 Kenntnis vom jugendhilferechtlichen Bedarf des Klägers hatte. Nach Mitteilung durch die Mutter des Klägers im September 2020, dass es in Wohnortnähe des Klägers keine freien Therapieplätze gebe und die Wartezeiten im Schnitt 1,5 Jahren betragen würden, hat es die Beklagte unterlassen, nach weiteren geeigneten Plätzen für den Kläger zu suchen. Insofern hat sich die Beklagte lediglich darauf berufen, dass die Mutter des Klägers einen Therapieplatz in I. aufgrund der Ganztagsbeschulung des Klägers abgelehnt habe. Eigene Bemühungen, einen Therapieplatz für den Kläger zu finden, hat die Beklagte daraufhin – wie auch schon zuvor – nicht unternommen. Zwar hat die Beklagte bei der Therapeutin J. die erforderlichen Unterlagen angefordert, um eine Überprüfung ihrer Anerkennung als Behandlerin durchführen zu können. Allerdings hat die Beklagte diesbezüglich zuletzt Anfang Oktober 2020 etwas unternommen. Obwohl eine Rückmeldung von Frau J. auf die Anfragen der Beklagten ausgeblieben und damit der Bedarf des Klägers weiterhin ungedeckt geblieben ist, hat die Beklagte hier – trotz des seit Juli 2020 bekannten Anspruchs des Klägers – bis zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung ab dem 3. Dezember 2020 – und auch nach diesem Zeitpunkt – nichts weiter unternommen, um den jugendhilferechtlichen Anspruch des Klägers zu erfüllen.
Eventuelle Kapazitätsmängel entbinden die Beklagte nicht von ihrer Gesamt- und Gewährleistungsverantwortung aus § 79 SGB VIII. Kann wie in diesem Fall kein Träger der freien Jugendhilfe in Wohnortnähe des Anspruchsberechtigten Kapazitäten aufweisen, muss der zuständige Jugendhilfeträger entweder eine Erfüllung des Anspruchs außerhalb der Wohnortnähe, sofern dies dem Kind noch zumutbar ist, sicherstellen oder auf eigene Kräfte zurückgreifen. Die Mitteilung der Kindesmutter, ein Therapieplatz in I. käme aufgrund der Ganztagsbeschulung nicht in Frage, entbindet die Beklagte nicht von ihrer Pflicht, weiterhin nach Therapieplätzen außerhalb der Wohnortumgebung des Klägers zu suchen. Vielmehr wäre es aufgrund der aus § 79 Abs. 2 SGB VIII folgenden Gewährleistungsverantwortung Aufgabe der Beklagten gewesen, in einem ersten Schritt verfügbare Therapieplätze für den Kläger zu ermitteln und erst in einem zweiten Schritt in Absprache mit dem Leistungsberechtigten herauszufinden, welcher der freien Therapieplätze für den Kläger in seiner individuellen Situation unter Berücksichtigung z. B. der Ganztagsbeschulung mit zumutbarem zeitlichem Aufwand wahrnehmbar ist. Alternativ kann der Jugendhilfeträger aber auch den Anspruch auf Eingliederungshilfe durch eigene Kräfte decken. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, hier die Beklagte, kann eine Leistung der Jugendhilfe sowohl durch eigene Kräfte als auch durch den Einsatz von Trägern der freien Jugendhilfe decken. Zwar ist die Erbringung von eigenen Maßnahmen nach § 4 Abs. 2 SGB VIII grundsätzlich subsidiär gegenüber dem Einsatz von Trägern der freien Jugendhilfe. Dies gilt nach § 4 Abs. 2 SGB VIII aber nur, „soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können“. Gerade dies ist hier aber aufgrund der fehlenden Kapazitäten bei den Trägern der freien Jugendhilfe nicht der Fall.

Original Quelle Niedersachsen.de

Bilder Pixabay / Original Quelle

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