Mainz (ots)
Man muss sich immer wieder vor Augen führen, unter welchen Vorzeichen Michail Gorbatschow seine Reformen begann. Als ihn die Kommunistische Partei in der Sowjetunion an die Macht beförderte, folgte er auf greise Männer in einem wirtschaftlich wie politisch heruntergekommenen Land. Und er selbst war einst noch in das Stalinsche Gewaltsystem hineingeboren worden. Außenpolitisch wiederum standen sich der Warschauer Pakt im Osten und die Nato im Westen im Kalten Krieg gnadenlos wettrüstend gegenüber. Gorbatschow kam, machte alles anders – und verlor. Die Sowjetunion wurde Geschichte, der Osten Europas wandte sich von Moskau ab und dem Westen zu. Nichts davon hatte Gorbatschow beabsichtigt. Aber erstens hatte er den Mut, mit Weitsicht das anzustreben, was er im Sinne der Menschen für das Richtige hielt. Zweitens griff er nicht zum Äußersten, um die Sowjetunion am Ende zusammenzuhalten oder die davonstrebenden Bündnispartner in Osteuropa zur Umkehr zu zwingen. So kam all das, was Europa nur als historischen Glücksfall begreifen kann: der Fall des Eisernen Vorhangs zwischen Ost und West, der Fall der Mauer, die deutsche Wiedervereinigung, die Einigung Europas. Der Westen und vor allem das deutsche Volk sind Gorbatschow auf ewig zu Dank verpflichtet .Alles war möglich, als die Sowjetunion und der sogenannte Ostblock implodierten, ja, auch ein Atomkrieg. Dass es nicht zu Kriegen kam, ist vor allem Gorbatschows Verdienst. Die Sowjetunion war schon nicht mehr reformierbar, als er sein Reformwerk antrat. Nicht jeder Anführer hätte da in der entscheidenden Stunde der Versuchung zur Gewalt widerstanden, um vielleicht doch noch zu retten, was zu retten ist. Gorbatschow probierte es auf politischem Weg. Und als er scheiterte, nahm er das hin, größere Ziele im Sinn: Frieden und Völkerverständigung. Das ist es, was ihn im Westen zur politischen Ikone macht. Und in Russland quasi zur unerwünschten Person. So oder so hat er Weltgeschichte geschrieben. Und anders als bei vielen anderen Herrschern ist diese Geschichte eben nicht mit Unterdrückung und Krieg verbunden. Wie sähe die Welt denn heute aus, wenn damals jemand wie Wladimir Putin in Moskau geherrscht hätte? Sie läge womöglich seit drei Jahrzehnten in Trümmern; auf jeden Fall wäre sie noch weit weniger friedlich. Ob Gorbatschow den Angriff Russlands auf die Ukraine noch wirklich realisierte, ist nicht bekannt; er war schon lange schwer krank, und nach Kriegsbeginn war es lediglich seine Stiftung, die sich erklärte, nicht er selbst. Schlimmer aber könnte der Kontrast nicht sein. Das Russland, das aus der Sowjetunion des Friedensnobelpreisträgers von 1990 hervorgegangen ist, überzieht seine Nachbarn seit Jahren mit Krieg. Es droht mit Atomschlägen. Es hat seinen Bürgern die Freiheit geraubt und jede Opposition unterdrückt. Und Putin rechtfertigt die Gewalt nach innen und außen ausgerechnet mit Verweis auf Gorbatschow und das Verschwinden der sowjetischen Macht. Wahre Größe wird Putin niemals mehr erreichen. Wie man sie erlangen und zeigen kann, das hat sein Vorvorgänger Gorbatschow gelehrt. Die Welt verneigt sich zu Recht vor einem der größten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts. Sie wird ihn nicht vergessen.
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