Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Hannover 1. Kammer | 1 A 5987/20 | Urteil | Niedersächsisches Kommunalwahlrecht – Wahlprüfungsklage gegen die Direktwahl eines kommunalen Hauptverwaltungsbeamten: Möglicher Wahlfehler wegen aufgrund des ersten „Corona-Lockdowns“ angeordneter Durchführung der Stichwahl als ausschließliche Briefwahl
Er trägt im Wesentlichen vor: Der Wahleinspruch des Klägers sei zu Recht zurückgewiesen worden. In seinem Einspruch trage der Kläger zwar zu einem möglichen Wahlfehler vor, behaupte aber lediglich ins Blaue hinein, dass dieser das Wahlergebnis mehr als nur unwesentlich beeinflusst habe. Etwas umfangreicherer diesbezüglicher Vortrag des Klägers sei erst mit dem Schreiben vom 18. Juli 2020, also nach Ablauf der Einspruchsfrist, erfolgt. Es beständen daher bereits Zweifel, ob der Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist ausreichend begründet worden sei. Jedenfalls sei der Einspruch unbegründet. Es liege kein Wahlfehler vor. Ein solcher ergebe sich zunächst nicht aus der Verschiebung der Stichwahl. Die Entscheidung hierzu sei ordnungsgemäß getroffen, der Beklagte, der die Eilentscheidung mit Beschluss vom 7. Juli 2020 nachträglich zustimmend zur Kenntnis genommen habe, entsprechend den gesetzlichen Vorgaben beteiligt worden. Auf die Frage, ob die Voraussetzungen für die Eilentscheidung vorgelegen hätten, komme es aus diesem Grund schon nicht mehr an. Die Voraussetzungen für eine Eilentscheidung auf Grundlage von § 89 Satz 2 NKomVG hätten zudem aber auch vorgelegen. Ohne die am 16. März 2020 getroffene Entscheidung über die Verschiebung der Stichwahl auf den 5. April 2020 wäre eine ordnungsgemäße Organisation und Vorbereitung der Stichwahl nicht mehr möglich gewesen. Selbst bei einer Einberufung des Beklagten oder des Kreisausschusses mit verkürzter Ladungsfrist wäre die notwendige Wahlvorbereitung nicht mehr im erforderlichen Maße sichergestellt gewesen. Wenn der Kläger meine, die Stichwahl hätte auch zwei Wochen später stattfinden können, verkenne er die Regelungssystematik des NKWG. Ein Wahlfehler ergebe sich auch nicht aus der Durchführung der Stichwahl als reine Briefwahl. § 28 Abs. 1 IfSG stelle insoweit eine taugliche Rechtsgrundlage dar. Hielte man eine auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützte Anordnung im Rahmen des Kommunalwahlrechts für nicht möglich, entstünde ein rechtliches Vakuum. Nach geltendem Wahlrecht dürfte die Wahl aus infektionsschutzrechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden. Andererseits bestünde keine Möglichkeit, zumindest für eine Übergangszeit eine infektionsschutzrechtlich unbedenkliche Wahlregelung an die Stelle zu setzen. Wahlen könnten auf absehbare Zeit nicht durchgeführt werden. Es entstünde ein Zustand, der vom Leitbild der periodischen Legitimation durch Wahlen noch weiter entfernt wäre als der einer Anordnung einer wahlrechtlich möglichen Lösung auf infektionsschutzrechtlicher Grundlage. In der konkreten Situation sei es unmöglich gewesen, alle kommunalwahl- und kommunalverfassungsrechtlichen Vorgaben einzuhalten. Durch die Dienstunfähigkeit des Amtsvorgängers des Beigeladenen, den bereits durchgeführten ersten Wahlgang und das sich rasant ausbreitende Corona-Virus sei eine Notsituation entstanden, die der Gesetzgeber nicht bedacht und geregelt gehabt hätte. Mangels gesetzlicher Grundlage hätten sich die Verantwortlichen in einem Dilemma befunden. Gegenüber einer solchen absoluten Ausnahmesituation könne die Rechtsordnung nicht gleichgültig bleiben und müsse vielmehr in der Lage sein, unter Abwägung aller Umstände die am wenigsten belastende Lösung zu finden, die für eine Übergangszeit ermögliche, eine wahlfreie Zeit zu vermeiden und zugleich die Anforderungen des Infektionsschutzes bei der Durchführung der Wahl zu wahren. Die Anordnung der ausschließlichen Briefwahl und damit verbundene Übersendung von Wahlunterlagen von Amts wegen habe auch auf Rechtsfolgenseite auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Unter Abwägung aller Umstände erweise sich die isolierte Durchführung der Briefwahl auch als angemessene Lösung, der gegenüber allen anderen in Betracht kommenden Varianten klar der Vorzug zu geben gewesen sei. Selbst wenn man aber davon ausginge, dass § 28 Abs. 1 IfSG nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden könnte, sei die Durchführung der Stichwahl als reine Briefwahl dennoch zulässig gewesen. Denn auch hier bleibe der Rechtsgedanke richtig, dass die Rechtsordnung in exzeptionellen Notlagen eine Lösung zulassen müsse, die unter den gegebenen Umständen immer noch näher an dem gesetzlichen Leitbild orientiert sei als die Lösung, die sich bei Vollzug der im Normalfall und nicht am Notstand orientierten rechtlichen Regeln ergäbe. Schließlich könne der Wahleinspruch des Klägers selbst dann keinen Erfolg haben, wenn er zulässig und begründet sei, da der hilfsweise zu unterstellende Rechtsverstoß das Wahlergebnis nicht oder nur unwesentlich beeinflusst habe. Mit „Ergebnis der Wahl“ sei der Wahlausgang gemeint; es komme maßgeblich darauf an, ob ohne den unterstellten Wahlfehler ein anderer Kandidat hätte gewählt werden können. Vorliegend stelle der unterstellte Wahlfehler einer reinen Briefwahl eine tendenzlose und bewerberneutrale Unregelmäßigkeit dar. Bei einer derartigen tendenzlosen bzw. bewerberneutralen Unregelmäßigkeit bedürfe es konkreter Anhaltspunkte dafür, dass sie sich auf das Ergebnis ausgewirkt haben könnte. Eine reine Spekulation reiche für die Bejahung der Ergebnisrelevanz nicht aus. Zusätzlich sei bei tendenzlosen bzw. bewerberneutralen Wahlfehlern in Rechnung zu stellen, dass die Auswirkungen auf das Ergebnis desto geringer seien, je mehr Wahlberechtigte von dem Wahlfehler betroffen seien. Da hier alle abgegebenen Stimmen von dem unterstellten Wahlfehler betroffen seien, bestehe kein Anhaltspunkt dafür, dass das Ergebnis dennoch zugunsten bzw. zulasten eines Bewerbers beeinflusst worden sei. Gewichtig gegen einen ergebnisrelevanten Wahlfehler spreche zudem, dass der Gesetzgeber mittlerweile in § 52c NKWG genau die Verfahrensregelung normiert habe, die vorliegend praktiziert worden sei. Der Gesetzgeber habe damit zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei dieser Vorgehensweise gerade nicht um eine solche handele, die das Wahlergebnis wesentlich beeinflusse; andernfalls hätte er dieses Verfahren nicht normieren dürfen. Der Kläger selbst stelle sowohl in seinem Einspruch als auch in seiner Klagebegründung lediglich allgemeine Vermutungen an, die keinen Bezug zum konkreten Sachverhalt aufwiesen. Die von ihm beschriebenen Einschränkungen von Analphabeten und Spontanwählern hätten so schon nicht vorgelegen. Auch der Vortrag, dass Familienangehörige bei der Wahlausübung beeinflusst worden seien, und Wahlbriefe nicht oder zu spät eingegangen sein könnten, gehe über bloße Behauptungen und Vermutungen nicht hinaus. Weiter übersehe der Kläger die Regelung in § 30a Abs. 3 NKWG, nach welcher Briefwahlstimmen von Personen, die zum Zeitpunkt des Wahltags bereits verstorben seien, gültig blieben und mitzuzählen seien. Schließlich könne auch die bei der Stichwahl höhere Wahlbeteiligung als üblich nicht zu einer wesentlichen Beeinflussung des Wahlergebnisses geführt haben. Ein Wahlverfahren, das zu einer möglichst hohen Wahlbeteiligung führe, entspreche vielmehr gerade den Vorgaben des Demokratieprinzips. Ferner sei der Stimmenabstand zwischen dem Beigeladenen und seinem Mitbewerber auch nicht so knapp, dass nur wenige Einzelstimmen einen anderen Wahlausgang hätten bewirken können.
Original Quelle Niedersachsen.de
Bilder Pixabay / Original Quelle
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