Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Lüneburg 2. Kammer | 2 A 80/21 | Urteil | Formelle Rechtswidrigkeit eines Bescheids wegen fehlender Anhörung

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VG Lüneburg 2. Kammer,
Urteil vom
01.07.2022, 2 A 80/21, ECLI:DE:VGLUENE:2022:0701.2A80.21.00

§ 56 Abs 1 GewO, § 60d GewO, § 28 VwVfG, § 45 Abs 1 Nr 3 VwVfG, § 46 VwVfG

Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich gegen die Untersagung des An- und Verkaufs von Edelmetallen sowie gegen die Androhung eines Zwangsgelds durch den Beklagten.

2

Die Klägerin ist Rechtsnachfolgerin der D. Deutschland E. F.. Die D. Deutschland E. F. führte An- und Verkaufsaktionen von Edelmetallen in mehreren Bundesländern durch. Am 20. Juni 2017 meldete die D. Deutschland E. F. eine unselbständige Zweigstelle für den Handel von und mit Edelmetallen bei der Gemeinde G. (H.) unter der Adresse I. straße 1, J. G. (H.) an. Die D. Deutschland E. F. kündigte mittels eines Flyers für den 16. und 17. Januar 2020 in G. im Textilhandel der Frau K. -L., I. straße 1 in G. (H.) die Durchführung einer Goldschmied-Aktion an.

3

Im Rahmen einer Kontrolle am 16. Januar 2020 trafen Mitarbeiter des Beklagten den Goldschmied M. N. O. an, der für die D. Deutschland E. F. dort als Goldankäufer tätig war. Herr O. wurde vom Beklagten aufgefordert, die Aktion abzubrechen, woraufhin dieser seine Tätigkeit einstellte.

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Mit Bescheid vom 17. Januar 2020 untersagte der Beklagte der D. Deutschland E. F. den An- und Verkauf von Edelmetallen im Sinne des § 56 Abs. 1 Nr. 2 a GewO in G. sowie im gesamten Gebiet des Beklagten auf Dauer (1.) sowie Werbung für den An- und Verkauf von Edelmetallen an Aktionstagen im gesamten Bereich des Beklagten durchzuführen (2.). Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der An- und Verkauf von Edelmetallen im Reisegewerbe verboten sei und deshalb nach § 60 d GewO von der zuständigen Behörde verhindert werden könne. Eine unselbständige Zweigstelle bestehe nicht. Es werde die typische Tätigkeit eines Reisegewerbes ausgeübt.

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Die D. Deutschland E. F. hat am 27. Januar 2020 Klage erhoben.

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Mit Bescheid vom 12. März 2020 hat der Beklagte zur Durchsetzung seiner Verfügung vom 17. Januar 2020 der D. Deutschland E. F. ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000,- EUR angedroht.

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Die D. Deutschland E. F. hat mit Schriftsatz vom 20. März 2020 ihre Klage um die Verfügung vom 12. März 2020 erweitert. In der Folge ist die D. Deutschland E. F. mit der Klägerin als übernehmendem Rechtsträger verschmolzen

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Die Klägerin trägt vor, sie werde nicht „ohne vorherige Bestellung“ durch den Kunden, sondern aufgrund vorher stattgefundener Werbung und reiflicher Überlegung des Kunden tätig, so dass eine Überrumpelung nicht stattfinde. Die Entscheidung verstoße zudem gegen europäisches Recht. Bei ihr handele es sich um eine englische Limited Company, die dem Schutz der europäischen Grundfreiheiten unterstehe. Eine insoweit unzulässige Beschränkung läge u.a. vor, da es in keinem anderen europäischen Land ein Verbot des An- und Verkaufs von Edelmetallen im Reisegewerbe gebe. Eine solche Beschränkung sei – insbesondere unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes – auch nicht gerechtfertigt, da zwingende Gründe des Allgemeinwohls nicht vorlägen. Zudem erweise sich die Ordnungsverfügung auch nach deutschem Recht als rechtswidrig, da sie ihre Tätigkeit nicht „ohne vorhergehende Bestellung“ durch die Kunden und mithin nicht als Reisegewerbe betreibe. So setze das Tatbestandsmerkmal „ohne vorhergehende Bestellung“ voraus, dass der Gewerbetreibende unangemeldet zum Kunden käme und nicht der Kunde zu ihm. Hier hätten ihre Kunden jedoch wohlüberlegt und aus eigenem Antrieb ihre Ankaufsstelle aufgesucht. Zudem habe sie eine unselbstständige Zweigstelle im streitgegenständlichen Haus ordnungsgemäß angemeldet, so dass sie nicht außerhalb ihrer Betriebsstätte tätig werde. Im Übrigen sei die Verfügung ermessensfehlerhaft, da aus dem Text der Verfügung nicht deutlich werde, dass sich der Beklagte überhaupt eines Ermessensspielraums bewusst gewesen sei. Eine Abwägung von Für und Wider eines Handelsverbots sei nicht einmal ansatzweise ersichtlich.

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Die Klägerin beantragt,

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die Bescheide des Beklagten vom 17. Januar 2020 und vom 12. März 2020 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er verweist zur Begründung auf die streitgegenständlichen Bescheide und trägt ergänzend vor, dass ein möglicher Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nicht gestellt worden sei. Zudem erfolge die Ankaufs-Aktion ohne vorherige Bestellung außerhalb der Betriebsstätte. Es bestehe keine unselbstständige Zweigstelle in G., da lediglich für den Zeitraum des Goldankaufs von der Inhaberin des Geschäfts Mobiliar im Verkaufsraum zur Verfügung gestellt worden sei. Es werde auch nicht gegen EU-Recht verstoßen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.

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Die zulässige Klage ist begründet. Die – nicht erledigten (vgl. insoweit zur gleichen Klägerin OVG NRW, Urt. v. 10.3.2022 – 4 A 1381/18 -, juris Rn. 24 ff.) – Bescheide des Beklagten vom 17. Januar 2020 und vom 12. März 2020 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Ordnungsverfügung ist § 60d i. V. m. § 56 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) GewO. Danach kann die Ausübung des Reisegewerbes entgegen des Verbots des Feilbietens und des Ankaufs von Edelmetallen und edelmetallhaltigen Legierungen in jeder Form sowie Waren mit Edelmetallauflagen von der zuständigen Behörde verhindert werden. Die Androhung des Zwangsgeldes findet ihre Ermächtigungsgrundlage in § 67 i.V.m. § 70 NPOG, zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. Dezember 2019 (Nds. GVBl. S. 428).

18

Der Bescheid vom 17. Januar 2020 ist formell rechtswidrig, da er an einem erheblichen Verfahrensfehler leidet, der nicht geheilt wurde und auch nicht unbeachtlich ist. Der Beklagte hat die Rechtsvorgängerin der Klägerin vor Erlass des Verwaltungsakts nicht, wie von § 28 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 1 NVwVfG gefordert, angehört. Danach ist einem Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in seine Rechte eingreift.

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Eine ausdrückliche Anhörung der Rechtsvorgängerin der Klägerin durch den Beklagten ist nicht erfolgt und es liegt auch keine andere der gesetzlichen Vorschrift entsprechende Anhörung der Rechtsvorgängerin der Klägerin vor, die die fehlende Anhörung ersetzen könnte. Die Anhörung war auch nicht entbehrlich im Sinne des § 28 Abs. 2 VwVfG. Nach § 28 Abs. 2 VwVfG kann die Behörde von der Anhörung absehen, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalles nicht geboten ist. In diesem Zusammenhang zählt das Gesetz fünf Ausnahmegründe auf, die allerdings nicht abschließend sind. Liegen die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwVfG vor, räumt die Vorschrift der Behörde die Befugnis ein, nach Ermessen über einen Verzicht auf die Anhörung zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung bedarf einer Begründung, die erkennen lässt, auf welchen Erwägungen die Entscheidung, von der Anhörung abzusehen, beruht (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 27.2.2013 – 6 C 824/11.T -, juris Rn. 50 m.w.N.). Unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwVfG vorlagen, lässt sich der Begründung des angegriffenen Bescheids nicht entnehmen, dass der Beklagte eine solche Ermessensentscheidung getroffen hat und – gegebenenfalls – aus welchen Gründen er von der vorherigen Anhörung abgesehen hat.

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Die Verletzung der Anhörungspflicht ist auch nicht gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG unbeachtlich. Nach dieser Vorschrift ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach § 44 VwVfG nichtig machen, unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird; nach Absatz 2 können derartige Handlungen bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Eine Heilung in diesem Sinne tritt allerdings nur dann ein, wenn die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Das setzt voraus, dass der Beteiligte – nachträglich – eine vollwertige Gelegenheit zur Stellungnahme erhält und die Behörde die vorgebrachten Argumente zum Anlass nimmt, die ohne vorherige Anhörung getroffene Entscheidung kritisch zu überdenken (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2022 – 4 A 7.20 -, juris Rn. 25; Hess. VGH, Urt. v. 27.2.2013 – 6 C 824/11.T -, juris Rn. 53 m.w.N.).

21

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze geht der Einzelrichter nicht davon aus, dass die unterbliebene Anhörung der Rechtsvorgängerin der Klägerin im vorliegenden Verfahren nachgeholt worden ist. Ob dies in einem gerichtlichen Verfahren etwa durch die Erhebung der Klage und die nachfolgenden Begründungsschriftsätze möglich ist und zulässig erfolgen kann, ist zweifelhaft. Die Frage, ob Äußerungen oder Stellungnahmen im gerichtlichen Verfahren generell geeignet sind, eine nachträgliche Anhörung im Sinne des § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG darzustellen, ist umstritten (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 27.2.2013 – 6 C 824/11.T -, juris Rn. 54 m.w.N.). Dies kann indes offen bleiben, da die schriftsätzlichen Stellungnahmen des Beklagten im gerichtlichen Verfahren nicht die Anforderungen an eine nachträglich ordnungsgemäß durchgeführte Anhörung erfüllen.

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Die formelle Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsakts ist auch nicht nach § 46 VwVfG unbeachtlich. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 VwVfG nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Hierfür ist im Regelfall erforderlich, dass jeglicher Zweifel daran ausgeschlossen sein muss, dass die Behörde ohne den Verfahrensfehler genauso entschieden hätte (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2010 – 3 C 14.09 -, juris Rn. 40). Das Gericht darf nicht allein darauf verweisen, dass für eine positive Fehlerkausalität keine Anhaltspunkte ersichtlich sind bzw. nicht von den Betroffenen dargelegt wurden. Im Gegenteil müssen konkrete Anhaltspunkte dafür nachweisbar sein, dass die Behörde die gleiche Entscheidung getroffen hätte (vgl. Schneider, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: April 2022, § 46 VwVfG Rn. 53). Dies wird im Regelfall jedoch nur bei gebundenen Entscheidungen oder ggf. bei einer Ermessensreduzierung auf Null zu bejahen sein (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 27.2.2013 – 6 C 824/11.T -, juris Rn. 56).

23

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Nach § 60d i.V.m. § 56 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) GewO kann die Ausübung des Reisegewerbes entgegen des Verbots des Feilbietens und des Ankaufs von Edelmetallen und edelmetallhaltigen Legierungen in jeder Form sowie Waren mit Edelmetallauflagen von der zuständigen Behörde verhindert werden. Ausweislich des eindeutigen Wortlauts entscheidet die Behörde somit nach pflichtgemäßem Ermessen, ob und ggf. wie und in welchem Ausmaß sie die Gewerbeausübung verhindert, wobei insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (vgl. Rossi, in: Pielow (Hrsg.), BeckOK GewO, Stand: Januar 2022, § 60d Rn. 4; Ennuschat, in: Ennuschat/Wank/Winkler (Hrsg.), GewO, 9. Aufl. 2020, § 60d Rn. 8). Bei Ausübung verbotener Tätigkeiten wird aus Gründen eines effektiven Verbraucherschutzes die weitere Tätigkeit des Gewerbetreibenden regelmäßig zu verhindern sein, so dass von einem intendierten Ermessen auszugehen ist. Die konkret zu ergreifenden Verhinderungsmaßnahmen müssen aber in Relation zum angestrebten Erfolg stehen. Hierbei ist zu beachten, dass vielfach zur effektiven Durchsetzung auf die Verhängung eines Bußgeldes ausgewichen werden kann (vgl. Schönleiter, in: Landmann/Rohmer, GewO, Stand: September 2021, § 60d Rn. 8). Hinzu kommt, dass nach § 56 Abs. 2 Satz 3 GewO die zuständige Behörde im Einzelfall für ihren Bereich Ausnahmen von den Verboten des Absatzes 1 mit dem Vorbehalt des Widerrufs und für einen Zeitraum bis zu fünf Jahre zulassen kann, wenn sich aus der Person des Antragstellers oder aus sonstigen Umständen keine Bedenken ergeben. Dies zeigt, dass § 56 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) GewO kein absolutes Verbot normiert, da Ausnahmen möglich sind. Somit hat die Behörde in Fällen des intendierten Ermessens wie hier jedenfalls zu prüfen, ob im konkreten Fall ein atypischer Fall vorliegt, der ein Abweichen von der Regel erfordert. Ob ein atypischer Fall vorliegt, lässt sich von der Behörde aber grundsätzlich nur ordnungsgemäß prüfen, wenn der Betroffene zuvor die Möglichkeit hatte, zu der geplanten Maßnahme Stellung zu nehmen. Dies zeigt, dass vorliegend nicht offensichtlich ist, dass bei einer ordnungsgemäßen Anhörung der Klägerin der Beklagte die gleiche Entscheidung getroffen hätte.

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Der Bescheid vom 17. Januar 2020 verletzt die Klägerin auch in ihren Rechten.

25

Aufgrund der formellen Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 17. Januar 2020 kommt es auf die materielle Rechtmäßigkeit nicht mehr entscheidungserheblich an (vgl. aber bei einer identischen Sachlage die materielle Rechtmäßigkeit bejahend: Urt. d. Kammer v. 1.7.2022 – 2 A 75/21 -, juris mit Verweis auf OVG NRW, Urt. v. 10.3.2022 – 4 A 1381/18 -, juris Rn. 37 ff.).

26

Die Androhung des Zwangsgeldes vom 12. März 2020 ist ebenfalls rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, da die Grundverfügung – die Ordnungsverfügung vom 17. Januar 2020 – rechtswidrig ist.

27

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.

28

Gründe für die Zulassung der Berufung gemäß § 124 a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO durch das Verwaltungsgericht liegen nicht vor.

 


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